Eine Frage der Kultur: Waffengewalt in den USA

Kolumne – Nach dem Amoklauf in Uvalde, Texas, diskutieren die USA wieder einmal heftig über eine Waffenrechtsverschärfung.
Sturmgewehr von Heckler und Koch
Für Privatpersonen unerreichbar, auch in den USA: ein modernes Sturmgewehr des Herstellers Heckler und Koch. © Prof. Dr. Stephan G. Humer
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Nachvollziehbar, wenn ein 18-jähriger mit einem „Sturmgewehr“ (die Medien tun sich hier ähnlich schwer mit der Bezeichnung wie bei der Unterscheidung zwischen Waffenschein und Waffenbesitzkarte) fast zwei Dutzend Kinder tötet – wer will da nicht intervenieren? Doch die Debatte leidet aus wissenschaftlicher Sicht insbesondere im medialen Kontext an zwei grundsätzlichen Problemen, die eine sinnvolle Lösung verstellen:

Auf den ersten Blick

Das erste Problem kann man als „Auf den ersten Blick“-Problem bezeichnen. Auf den ersten Blick erscheint es vielen Menschen mehr als logisch, bei Waffenverbrechen Waffen stärker zu reglementieren oder gar zu verbieten. Die Logik lautet konkret: Wenn keine Schusswaffe, dann keine Schusswaffenopfer. Das ist allerdings nur dann argumentativ haltbar, wenn man sich auf Schusswaffenopfer beschränkt. Denn schließlich werden Menschen weiterhin auch durch andere Gegenstände zu Tode kommen und es gibt keinerlei Garantie, dass jemand, der auf einen Mord mit einer Pistole verzichtet, nicht auf eine andere Waffe, beispielsweise ein Messer, ausweicht. Ganz im Gegenteil: Für einen Mord braucht es schon mehr als nur den bloßen Zugriff auf eine Schusswaffe, denn sonst sähen die Opferzahlen angesichts der Verbreitung von Schusswaffen in modernen Gesellschaften wesentlich dramatischer aus. Und erst recht würden Terroristen und Kriminelle nicht ihre Taten einstellen, wenn die Welt völlig schusswaffenfrei wäre. Es reicht ein exemplarischer Blick nach Nizza, um dies nachvollziehen zu können.

Der Kern des Problems

Das zweite Problem, welches eng mit dem ersten Problem verknüpft ist, liegt in der Annahme begründet, dass Schusswaffen nicht nur das prioritäre Werkzeug, sondern sogar den Kern des Problems an sich darstellen, sprich: nicht nur Waffenbesitz, sondern die übergeordnete Waffen(besitz)kultur der Ursprung allen Übels sind. Das erscheint erneut, auf den ersten Blick, nur logisch, denn die USA sind weltweit für ihre grundsätzlich sehr lockeren (regional jedoch durchaus stark unterschiedlichen) Waffengesetze bekannt und Schusswaffen sind, zumindest gefühlt, überall: in der Hälfte aller Privathaushalte, in Literatur, Film, Fernsehen, Computerspielen etc. Historisch gesehen wiegt jedoch ein anderer Aspekt bis heute deutlich schwerer als die Waffenkultur: Es dürfte die amerikanische Gewaltkultur sein, welche den USA ihre gegenwärtigen Probleme beschert. Nicht nur, weil andere Gesellschaften bzw. Länder ebenfalls eine lange Waffen- und Schützenhistorie, aber keine vergleichbar tödliche Gewaltkultur haben, so beispielsweise die Schweiz, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass Gewalt seit jeher Teil der amerikanischen Lebenswelt ist, beginnend bei den ersten Siedlern über die berüchtigte NRA und großzügige Stand-your-ground-Gesetze und nicht endend bei der gegenwärtigen Heldenverehrung von militärischen und polizeilichen Spezialeinheiten sowie Veteranen. Waffen sind somit nur eine Folge, nicht aber der Ursprung der Gewalt. Selbstverständlich können insbesondere Schusswaffen verheerende Folgen zeitigen und selbstverständlich bedarf es – auch bei grundrechtlich geschütztem Waffenbesitz – einer vernünftigen Regulierung, da besteht gar kein Zweifel. 

Eine Frage der Kultur

Aber wenn die USA tatsächlich weniger Schusswaffenopfer verzeichnen wollen, sollten sie sich zuerst einmal ehrlich machen: Gewalt ist ein so relevanter Teil der US-Kultur, dass hier und nicht bei den Waffengesetzen jede Initiative beginnen sollte. Für ein vernünftiges Waffenrecht braucht es aber eben Vernunft und keine Kultur, in der atavistisches Verhalten gefeiert anstatt verurteilt wird. Wenn die USA kulturell abrüsten, dann kann tatsächlich eine friedlichere Phase in der Geschichte dieses großartigen Landes beginnen.

Über den Autor/in

Prof. Dr. Stephan Humer

Prof. Dr. Stephan Humer

… ist Professor in der digitalen Sicherheitsforschung an der Hochschule Fresenius Berlin und sozio-technischer Waffensachverständiger, d. h. interessiert an allen Themen rund um Schusswaffen und Gesellschaft. Er ist Gründungsvorsitzender (2013-2021) des Netzwerks Terrorismusforschung e. V. und dortiger Koordinator der Spitzenforschung. Außerdem ist er als Gutachter für Politik, Behörden und Unternehmen tätig.