Bodycams: Mittendrin statt nur dabei

Auch im Bereich der Optik gilt eine der zahlreichen Binsenweisheiten unserer digitalen Gesellschaft: „Digitalisierung geht gern einher mit Miniaturisierung.“
Eine Szene, in der mit einer Bodycam ein Polizeieinsatz gefilmt wird
Nein, er will offensichtlich nicht nur spielen: Realitätscheck für überforderte Hundebesitzerin dank Bodycam.
Share on facebook
Share on twitter
Share on linkedin
Share on xing
Share on whatsapp
Share on email

Seit einigen Jahren diskutiert die Welt nun schon über entsprechende Entwicklungen und das Spektrum der Möglichkeiten reicht dabei von hochauflösenden Kameras in Smartphones über den Einsatz „intelligenter Türklingeln“ inklusive Gesichtserkennung und Fernüberwachung bis zur Bodycam im Dienstalltag verschiedenster Akteure. Doch während viele Entwicklungen hinsichtlich ihrer Anwendungsfelder eher evolutionären Charakter haben, kommt eine dieser Entwicklungen einer Revolution gleich: die (polizeiliche) Bodycam. Seit rund 15 Jahren sorgt sie nun in der Welt der Sicherheit zunehmend für Furore, doch ihr Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft und ihre Relevanz leider auch noch immer nicht ausreichend erkannt worden, erst recht nicht in der deutschen Sicherheits- und Behördenwelt, in der auch diese digitale Entwicklung erst mit großer Verzögerung und längst nicht flächendeckend thematisiert worden ist. 

Schon allein die soziologischen Perspektiven sind äußerst spannend – von den rechtswissenschaftlichen, polizeiwissenschaftlichen, ethischen und psychologischen Aspekten einmal ganz zu schweigen. Denn die Bodycam liefert nie zuvor dagewesenes Material der direkten Involvierung. Sicher, das Material ist mit Vor- und Nachteilen behaftet, denn auch diese Medaille hat zwei Seiten, doch unterm Strich dürfte der Mehrwert im Sinne eines Erkenntnisgewinns enorm sein. Videomassendaten liefern unvergleichliche Einblicke und im Idealfall nahezu unbestechliches Material – nicht unbedingt aus rechtlicher Perspektive, aber vor allem in Hinblick auf einen (eben soziologisch hochinteressanten) Realitätsabgleich. Man sieht, hört, erlebt polizeiliches Handeln (fast) so, wie es tatsächlich vorgefallen ist. Zumindest ist man mehr als je zuvor „mittendrin“. 

Insbesondere US-amerikanische Polizeibehörden liefern hier umfangreiches Anschauungsmaterial. Dabei wird ein Mythos nach dem anderen aufgelöst: So ist zahlreichen Bodycam-Videos zu entnehmen, wie realitätsfern die bei Laien beliebte Vorstellung des einzelnen Schusses, der einen Straftäter stoppen soll, letztlich ist. Wenn der mit einem Messer bewaffnete Täter selbst nach dem fünften oder sechsten Treffer aufgrund von Drogen, Adrenalin oder Suizidgedanken immer noch auf den Polizeibeamten zugerannt kommt, erscheint die Pressemeldung, dass hier ein Polizist „ein ganzes Magazin leergeschossen“ habe, in einem völlig anderen Licht. Ähnliches gilt für den Faktor Zeit: entpuppt sich ein zuvor harmloser Mensch plötzlich als blitzschneller Angreifer mit Messer, Axt oder Stahlrohr, so sinkt nachvollziehbarerweise die Möglichkeit, hier mit weniger lethalen Waffen wie Gummigeschossen, Bean Bags oder Tasern einzugreifen oder gar noch zu verhandeln, faktisch auf null. Manche Angriffe geschehen so schnell, dass manch Zuschauer seinem eigenen Zeitzähler im Videoplayer kaum über den Weg trauen mag. Eine Eskalation kann durchaus in gerade einmal zwei bis drei Sekunden stattfinden – und das schließt alles ein: vom Stimmungswechsel des Täters bis zum Erschießen durch die Polizei. Doch es muss gar nicht immer der Extremfall des Schusswaffeneinsatzes sein. Ein Video einer kalifornischen Polizeibehörde dokumentierte mustergültig, wie harmlos der angeblich brave Hund einer uneinsichtigen Besitzerin tatsächlich war: Während des Behördenbesuchs zur zeitweiligen Überführung des Hundes in ein Tierheim biss dieser unvermittelt einen der anwesenden Polizeibeamten ins Bein. Da lässt sich nichts mehr schönreden, relativieren oder verharmlosen. Der gesellschaftliche Gewinn solcher Dokumentationen kann deshalb kaum überschätzt werden.

Der in den USA oftmals anzutreffende Ansatz weitgehend ungekürzter Veröffentlichung solcher Videos leistet einen signifikanten Beitrag für den Erkenntnisgewinn der interessierten Öffentlichkeit. Es sollte deshalb auch im Sinne deutscher Behörden sein, digital dokumentierte Ergebnisse – positiv und negativ – einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Denn es geht nicht immer nur um Schuldfragen. Es geht auch und ganz besonders um das Aufklären von Mythen. Auch das dürfte allen Beteiligten in vielerlei Hinsicht helfen, den Behörden ebenso wie der Bürgerschaft.

Über den Autor/in

Prof. Dr. Stephan Humer

Prof. Dr. Stephan Humer

… ist Professor in der digitalen Sicherheitsforschung an der Hochschule Fresenius Berlin und sozio-technischer Waffensachverständiger, d. h. interessiert an allen Themen rund um Schusswaffen und Gesellschaft. Er ist Gründungsvorsitzender (2013-2021) des Netzwerks Terrorismusforschung e. V. und dortiger Koordinator der Spitzenforschung. Außerdem ist er als Gutachter für Politik, Behörden und Unternehmen tätig.